Interview mit Saphir Nofar Ben Dakon

Saphir, magst du kurz deine Biographie umschreiben, Alter, Ausbildung, Beruf, Engagements und Behinderung, wenn du möchtest? Oder andere Dinge, die dich als Mensch ausmachen.

Mein Name ist Saphir Nofar Ben Dakon und ich bin 28 Jahre alt. Im Alter von 10 Jahren wurde ich mit viel Engagement und Tränen meinerseits in eine Regelklasse integriert und habe nach der regulären Schulzeit eine Lehre zur Kauffrau EFZ, Profil M absolviert. Danach habe ich im Bachelor Business Communications an der HWZ studiert. Nach dem Ausbruch der Coronapandemie habe ich mich entschlossen den Master of Science in Business Administration Studienrichtung New Business an der FHGR zu besuchen.

Ich habe eine Mehrfachbehinderung, wobei der sichtbare Teil die Cerebralparese ist. Auf weitere Einschränkungen gehe ich jeweils nicht ein, da Menschen Diagnosen, entgegen ihrem eigenen Empfinden, nicht interpretieren können.  Es ist auch so schon schwierig genug, als die Person wahrgenommen zu werden, die man ist. Situationsbedingt gehe ich jeweils darauf ein, wenn es mein Gegenüber beeinflussen könnte, ansonsten lasse ich es.

Momentan bin ich in folgenden Organisationen als Vorstandsmitglied tätig: AGILE.CH Die Organisation von Menschen mit Behinderungen, Verein Tatkraft und Förderverein SKB

Fun Facts: Ich wünschte, ich könnte in einer Bibliothek leben und besitze selbst einen Keller voll Bücher. In jedem Land, in dem ich war, kaufe ich mindestens ein Buch, welches dort gerne gelesen wird. Dies ist für mich eine Möglichkeit, Menschen und ihre Kulturen nochmals anders kennenzulernen.

Neben meinen Tätigkeiten engagiere ich mich stark als Tante und versuche aktiv am Leben meiner Nichten teil zu nehmen. Die Spitznamen, welche sie mir geben, waren bis jetzt die grösste Anerkennung. Letzte Woche bezeichnete mich meine 2½-jährige Nichte Yara als Cooler Schneemann im Sommer. Ich bin der Meinung, dass dies mein Leben in der Realität sowie auf einer philosophischen Ebene ziemlich gut zusammenfasst.

 

Du bist schon erfolgreich in dein Berufsleben eingestiegen. Was gefällt dir an deinem Arbeitsalltag und was hat dir auf diesem Weg geholfen?

An meinem Arbeitsalltag gefällt mir, dass meine Vorgesetzten mir sehr viel Verantwortung übergeben und ich meine Arbeitspakete selbstständig gestalten kann. Es kommt mir entgegen, in einem kleinen Team zu arbeiten. Besonders wichtig scheint mir, dass der Fokus meines Arbeitgebers auf die Themen AI und digitale Transformation in Unternehmen meinen Interessen entspricht.

Schlussendlich waren es meine Ausbildungen. Ich störe mich ein bisschen an dem momentanen Trend, welchen ich auf LinkedIn beobachte. Es gäbe nicht den einen Lebenslauf und man könne auch ohne Ausbildung etwas erreichen, solange man Passion für eine Sache mitbringt. Leute, die an dem Altbewehrten festhalten, werden schnell in eine konservative Ecke gestellt und vor allem von der Gen-Z etwas lächerlich gemacht. Nun argumentieren aber gerade diese jungen Menschen aus einer Position der Privilegien heraus und vermarkten sich als Underdogs. Diese Realität, aus der heraus argumentiert wird, hält einem Belastungstest im Leben von Menschen mit Behinderungen nicht stand. Die meisten MmB müssen nämlich Anforderungen zu 110% erfüllen, damit man ihnen eine Chance gibt. Und da rede ich nicht von Sitzen in einem Verwaltungsrat, sondern von Einstiegspositionen. Sie müssen das Wissen, welches hinter einer allfälligen Passion steht, erst einmal unter Beweis stellen, weil man sie meistens schon mal ganz grundsätzlich nicht ernst nimmt.

In meinem Fall hätte es ohne Ausbildungen und vor allem die Lehre sowieso nicht funktioniert. Aufgrund meiner Mehrfachbehinderungen muss ich mir in einer neuen Lebenssituation immer zuerst Workarounds erarbeiten. Dies galt damals auch für den Einstieg in die Arbeitswelt. Die Lehre hat mir die optimale Plattform gegeben, dies zu tun. Einen Lehrbetrieb zu haben, wo ich auch scheitern durfte, hat mir sehr geholfen.

Ich denke, damit kommen wir gleich zum nächsten und letzten Punkt. Ich hatte ein Umfeld, um mich herum, dass mich scheitern liess. Oft ist es nämlich so, dass Menschen mit Behinderungen aus einer pädagogischen Fehlüberlegung heraus nicht scheitern dürfen. Ich habe manchmal den Verdacht, dass diese Menschen das Scheitern eines ihnen anvertrauten Menschen als persönliches Versagen betrachten oder bei Erfolg eben dieses Menschen Angst haben, obsolet zu werden. Meine Mutter und auch andere Förderer wollten allerdings, dass ich meine Ziele so setzte, dass scheitern durchaus möglich, aber mit harter Arbeit vermeidbar war. Ich nehme dieses Mindset übrigens auch in Unternehmen wahr. Klappt eine Einstellung mit einem Menschen mit Behinderung nicht, sind sie oft sehr vorsichtig, es nochmals zu probieren. Würde man dieses Mindset auf die Gesamtgesellschaft übertragen, könnte man wohl niemanden mehr einstellen und müsste unser Wirtschaftssystem grundsätzlich überdenken. Mein Erfolg hat also grundsätzlich kein System, es handelt sich mehr um Trial und Error und ich schaue, wo man mir mit einem offenen Mindset auf Augenhöhe entgegentritt.

 

 

Du hast aufgrund deiner Behinderung schon viele (leider auch negative) Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem gesammelt. Was nervt dich bis heute und was denkst du muss sich ändern?

Ich denke, nerven ist hier das grundsätzlich falsche Wort. Es schockiert mich und ich mache mir grosse Sorgen um Menschen mit Behinderungen, die sich nicht im selben Masse wie ich artikulieren können und auch nicht so ein Supportsystem haben. Ganz grundsätzlich wäre ich schon mal glücklich, wenn man mich als dem Gesundheitsdienstleister gleichgestellten Menschen wahrnimmt. Viele Dienstleister in verschiedenen Positionen sollten darin geschult werden, Menschen mit Behinderungen im Gespräch ernst zu nehmen und sie nicht gleich als unzurechnungsfähig abstempeln. Jemanden als Menschen wahrzunehmen, bedeutet auch das Geschlecht zu berücksichtigen, ohne zu diskriminieren. Ich meine hier zum Beispiel, nicht als hysterisch wahrgenommen zu werden, nur weil ich Schmerzen und Spasmen habe und daher meine Tränen nicht kontrollieren kann. Schliesslich artikuliere ich ganz klar, dass in meinem Kopf Business as Usual herrscht. Ich wurde schon oft ohne vorgängiges Fragen angefasst, auch wenn der Fall nicht akut war. Das sollte sofort aufhören. Auch mag ich es nicht als «Es» betitelt zu werden und wenn über meinen Kopf hinweg gesprochen wird.

Wenn wir von den Krankenkassen sprechen, sollten diese aufhören eindimensional zu denken. Ich bekomme zum Beispiel keine Langzeitverordnung Physio, weil ich bereits voll ins Arbeitsleben integriert bin und es mit der CP kein Potenzial gibt. Ich besuche aber 3-mal in der Woche ein Fitnesscenter und bezahle auch die Robotik-Therapie punktuell aus eigener Tasche. Würde ich dies nicht tun, würde ich schnell immobil werden und die Schmerzen würden wieder stärker. Dies war während der Coronapandemie eindrücklich zu beobachten.

 

Besonders an dir ist, dass du eine junge Frau mit Behinderung bist und dich stark engagierst. Dies ist gar nicht selbstverständlich, durch Mehrfachdiskriminierungen und Alltagsbelastungen, die wir erleben. Was hilft dir dabei, engagiert zu bleiben? Was brauchst du, um Kraft zu tanken?

Der wichtigste Punkt ist das Mindset. Essenziell scheint mir, keiner Utopie zu verfallen, die perfekte inklusive Gesellschaft erschaffen und in ihr Leben zu wollen. Das mag wie ein Widerspruch in sich klingen, aber für mich ist es essenziell, im Hier und Jetzt zu leben und meine Existenz in diesem Konstrukt zu akzeptieren. So gebe ich den inkrementellen Verbesserungen die Wichtigkeit, die sie tatsächlich verdienen. Würde ich meine Erfolge mit einer Utopie vergleichen, wären sie nichts wert und ich würde an der Realität verzweifeln. Ich freue mich daher sehr über inkrementelle Verbesserungen. Dieser Blickwinkel gibt mir die Kraft, die Menschen zu sehen, die bereits von unserer Arbeit profitieren können. Klar, könnte ich die übergeordnete Statistik anschauen und an ihr verzweifeln. Nur kann ich dann weder den anderen noch mir selbst helfen. So bewahre ich mir Empathie und vergesse darüber hinaus die Menschlichkeit nicht. Gleichzeitig akzeptiere ich damit auch, dass viele Dinge nur im Team erreicht werden können, und so suche ich mir über die vielen kleinen Dinge, welche ich tue, die Menschen zusammen, mit denen gemeinsam grosse Veränderungen angetrieben und umgesetzt werden könnten. Ich schöpfe Kraft daraus, nicht alles allein durchsetzen zu müssen und möchte in diesem Sinne auch kein eigenes Lebenswerk erschaffen. Hätte ich dort eine andere Vorstellung, würde ich wohl obsessiv alles in meiner Lebenszeit erreichen wollen und könnte nicht mehr ruhig schlafen.

Ausserdem finde ich es wichtig, das eigene Leben respektive dessen Erfolg nicht nur über den eigenen Aktivismus zu definieren. In meinem Alltag nehme ich mehrere Rollen ein, die mir wichtig sind. So bin ich beispielsweise Tante, für viele eine Freundin, jemand der seine Arbeit liebt, aber auch engagiert. Mein Erfolg besteht somit aus mehreren Facetten. Läuft es mal irgendwo nicht so gut, fokussiere ich mich wieder stärker auf einen anderen Bereich und oft ergeben sich dann zur Auflösung meines Frusts neue Ansätze. Geht gar nichts mehr, übe ich mich in Mindfullness und gehe in die Natur. So erhalte ich wieder einen Blick auf mich selbst. Das erachte ich als grundsätzlich, um sich selbst nicht zu verlieren.

 

Auf dem ersten Bild ist Saphir zu sehen. Sie hat mittellange braune Haare, helle Haut, trägt eine runde silberne Brille und ein weisses Hemd. Sie blickt mit einem grossen Lachen in das Bild und zeigt strahlend weisse Zähne.

Foto von Saphir