Gleichstellung und Standpunkte: Denyse Gundlich

Denyse Gundlich wurde 1951 in Wiesbaden (Deutschland) geboren. Sie ist  geburtsbehindert früher mit Oberschenkelprothese und Krücken gelaufen, und heute Rollstuhlfahrerin. Die pensionierte Mathematikerin und Psychotherapeutin lebt seit 8 Jahren in Uster, nachdem sie ihren früheren Wohnort Zürich nach über 30 Jahren verlassen musste, weil sie keine bezahlbare rollstuhlgängige Wohnung finden konnte.

Denyse ist Mitglied bei avanti donne und nahm nach der Mitgliederversammlung zusammen mit zwei weiteren engagierten Selbstvertreter*innen am Panel teil. Nach ihren Erfahrungen in der Kindheit und Jugend befragt, sagt sie: «Ich hatte das Glück, die öffentliche Schule besuchen zu können, durfte aber im Turnunterricht nur zuschauen, trotz starkem Bewegungsdrang. Erst viel später gelang es mir, in vielen Anläufen, sportliche Aktivitäten, Schwimmen, Kajakfahren (Wildwasser) für mich zu erobern. Geeignete Angebote für Behinderte und gute Hilfsmittel gab es in meiner Kindheit und Jugend nicht.»

Neben der Behinderung waren Migration und Assimilation prägende Erfahrungen für Denyse. Anders als die jüngeren Betroffenen erlebte sie in der Ausbildung und später im Beruf wenig Unterstützung. Nach der Geburt ihres Sohnes war sie als alleinerziehende Mutter weiterhin berufstätig und musste daneben für das Kind sorgen und sich um den Haushalt kümmern. Rückblickend eine enorme Mehrfachbelastung, insbesondere, wenn noch eine Behinderung dazu kommt.

 

«In den mittleren Jahren war ich extrem gefordert: Beruf, Haushalt, Kind, Behinderung – und das Alles praktisch ohne Unterstützung.»

 

Erst als ihr Sohn anfing, auf eigenen Beinen zu stehen, konnte sich Denyse wieder vermehrt eigenen Interessen zuwenden, und begann mit dem Rollstuhltennis, und dem Handbiken. Später griff sie ihre Leidenschaft, das Kajaken, wieder auf.

Nach ihrer Pensionierung ist sie weiterhin zu etwa 25% berufstätig und engagiert sich in Uster für die Umsetzung der UNO-BRK. Dabei erlebt sie, wie Viele, die sich sozialpolitisch engagieren, oft: «ein Schritt vor, zwei zurück». Mit zunehmendem Alter, so sagt sie, erlaube sie sich jedoch bisweilen auch eine gewisse Ungeduld. Und fügt hinzu: «ich darf und muss weiterhin Frustrationstoleranz und Humor trainieren…»

 

 

Fragen an Denyse

 

Nach der Mitgliederversammlung hast du am Podium zum Stand der Gleichstellung mitdiskutiert. Wo siehst du bei der Umsetzung der UNO-BRK den grössten Handlungsbedarf?

Solange es in der Schweiz keine verpflichtenden Gesetze (wie das ADA in den US oder das DDA in UK) gibt, sind Teilhabe-Ansprüche z.B. gegenüber Privaten (Gaststätten, Läden, Kinos, Hotels, Liegenschaftenverwaltungen, Transportunternehmen usw.) leider nicht einklagbar, und somit gibt es (zu) wenig «Bewegung». Auch müsste bei der IV dringend ein Paradigmenwechsel stattfinden, angefangen beim Namen («Invalide») über die paternalistische Haltung der Berater, bis zu der z.T. absurd restriktiven Bewilligung von geeigneten Hilfsmitteln.

 

Du engagierst dich seit vielen Jahren für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Was gibt dir Kraft und welches waren deine grössten Erfolge?

Das mit der Kraft geht auf und ab. Ich sage mir nur immer wieder, wie wichtig es ist, dass sich Betroffene für ihre Anliegen einsetzen, denn den Nicht-Betroffenen fehlt sowohl die Erfahrung, das Wissen als auch die Motivation. Und so viel Erfahrung, wie ich sie inzwischen habe, ist ja nicht ganz alltäglich. Ein beruflicher Erfolg: dass ich während vieler Jahre junge Leute unterrichten konnte, die dadurch erlebt haben, dass auch Behinderte berufstätig sein können. Ein privater Erfolg: dass es mir gelungen ist, meine Aufgabe als Mutter einigermassen gut auf die Reihe zu kriegen, trotz schwieriger Umstände. Und der neueste «Erfolg»: dass es mir (und Urs Lüscher) gelungen ist, Zweckentfremdungen und Verschlechterungen von behindertengerechten Einrichtungen im Hallenbad Uster wieder rückgängig machen zu lassen. Das hat mehrere Anläufe und viel Zeit und Energie gebraucht, ist aber schlussendlich gelungen!

 

Du lebst seit Geburt mit einer Behinderung und hast viele Erfahrungen gemacht. Welches ist dein wichtigster Rat an eine (junge) Frau mit Behinderung?

«Ratschläge» möchte ich eigentlich keine geben. Erstens sollen junge Leute, ob weiblich oder behindert, ihre eigenen Erfahrungen machen. Zudem hat sich seit meiner Jugend Einiges geändert - zum Glück auch Einiges in die positive Richtung. Ich finde es schön, dass junge Behinderte heute mehr Möglichkeiten haben und auch, mindestens ansatzweise, auch besser unterstützt werden (dort gibt es noch Verbesserungspotenzial). Ausserdem hoffe ich, dass nicht nur Frauen allgemein, sondern besonders behinderte Frauen, in Zukunft nicht mehr so stark aufgerieben werden zwischen der Wahl, eine Familie zu gründen und der Wahl berufstätig zu bleiben. In meinem Leben habe ich die Berufstätigkeit weitgehend befriedigend entwickeln können, und (bis zu einem gewissen Grad) auch sportliche Aktivitäten. Aber das «Frausein» ist dabei eher zu kurz gekommen. Ich möchte alle jungen Menschen, insbesondere behinderte Frauen, ermuntern: versucht, was euch interessiert, zu erproben und zu verfolgen. Lasst euch nicht abhalten von Menschen, die meinen, etwas sei «nichts für euch». Sucht eigene Wege, die nur Ihr selbst finden könnt. Und last, but not least, vernetzt euch, mit anderen Frauen und Behinderten!

 

30. Juni 2022

Foto von Denyse