Der unsichtbare Feind
Gastautor: Ruffy
Vor etwa sieben Jahren lernte ich eine junge Frau kennen. Ich kann zugegeben nicht behaupten, dass ich sie heiraten und Kinder mit ihr kriegen wollte. Aber sie war hübsch, hatte ein angenehmes Wesen und machte die Lebensumstände, in denen ich mich damals befand, ein klein wenig erträglicher. So versuchte ich einen kleinen Flirt mit ihr zu beginnen. Das wollte aber nicht so recht klappen. Stellenweise stieg sie darauf ein, wirkte aber manchmal auch eher abweisend.
Ich dachte mir zunächst nicht viel dabei. Sie hatte offensichtlich kein Interesse an mir, und das störte mich dann auch nicht weiter. Allerdings bekam ich irgendwann ein etwas merkwürdiges SMS von ihr, welches mich erahnen liess, dass ihre Gefühle für mich womöglich doch von grösserer Bedeutung waren als gedacht. Da man die ganze Sache wohl als «verjährt» anschauen kann und ich keinen Namen genannt habe, zitiere ich sie einfach mal:
«Beantworte mir eine Frage. Mir ist es ein Rätsel, was du eigentlich an mir sexy findest. Ich meine, in deinen Augen bin ich kalt, gefühllos, berechnend und im Endeffekt gehe ich dir eigentlich auch auf die Nerven. Glaube mir, du hast jemanden verdient, der das pure Gegenteil von mir ist. Aber es interessiert mich trotzdem.»
Ich war mit dieser Nachricht zugegeben überfordert, und auch wenn ich mir Mühe gegeben habe, ihren Eindruck zu korrigieren, fehlte mir damals letzten Endes doch die nötige Lebenserfahrung und Reife, um richtig reagieren zu können. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich das heute könnte. Der Kontakt brach dementsprechend auch recht bald ab.
Vor einigen Jahren liefen wir uns dann per Zufall via facebook wieder über den Weg. Eine kurze Zeit lang chatteten wir regelmässig miteinander. Wir sprachen unter anderem auch über die Themen Liebe und Sex. Da erzählte sie mir etwas, was mich bis heute nie so richtig losgelassen hat, im Gegenteil. Auch hier gilt: Ich möchte ihr gegenüber nicht respektlos sein, halte es aber für wichtig, das an dieser Stelle zu erzählen. Sie erklärte mir sinngemäss, dass sie sich mit ihrer Behinderung nicht als richtige Frau fühle, da sie ganz genau wisse, dass ein allfälliger Partner auch «etwas Besseres» haben könne.
Ich versuchte ihr klarzumachen, dass richtiger Sex weitaus mehr mit Intimität als mit irgendwelchen Turnübungen zu tun habe. Ich muss dazu sagen, dass sie sich aufgrund ihrer geschwächten Beine (die genaue Diagnose kenne ich nicht und tut auch nichts zur Sache) mit einem Rollstuhl fortbewegte, aber keine weiteren körperlichen Einschränkungen hatte und auch nicht anders aussah als eine Frau ohne Behinderung. Darauf antwortete sie mir mit diesem erschütternden Satz, der mir bis heute immer mal wieder durch den Kopf schiesst:
«Wenn du den Ekel in seinen Augen siehst, vergeht dir jegliche Lust.»
Meine anfängliche Wut gegenüber diesem mir unbekannten Mann, auf den sie sich da bezog, hat sich über die Jahre in Mitgefühl verwandelt. Warum? Wir haben es hier mit einem Mann zu tun, der auf eine Frau mit einer in Gestalt des Rollstuhls klar erkennbaren Behinderung trifft und sich entschliesst, sie zu daten. Er geht mit ihr ins Restaurant, ins Kino und an andere Orte. Er läuft, sie rollt. Er sieht es und jeder, der den beiden über den Weg läuft, sieht es auch. Es ist ihm egal. Er mag sie. Mehr noch: Er begehrt sie. Und ausgerechnet dann, wenn er mit dieser hübschen jungen Frau im Bett liegt und endlich mit ihr Liebe machen darf – der Rollstuhl, der ihn ja bislang offensichtlich auch nicht gestört hat, steht daneben und ist gar nicht mehr Teil des Geschehens – überkommt ihn plötzlich der Ekel? Ich glaube, dieser Mann war ebenso wenig von ihrem nackten Körper angeekelt wie ich von ihrer angeblich so gefühlskalten, nervigen Persönlichkeit. Der Unterschied ist, dass ich zum Zeitpunkt ihrer SMS ein weitaus oberflächlicheres Verhältnis zu ihr hatte als ihr armer Freund, als er mit ihr im Bett lag.
Keine Frage: Am Ende behielt sie recht. Der Freund verschwand wieder aus ihrem Leben, aber wohl kaum, weil sie nicht gut genug für ihn war. Denn es ist zwar einfach, sich in jemanden zu verlieben. Zu diesen Gefühlen zu stehen und dafür zu arbeiten, ist schon weitaus schwieriger, aber durchaus zu schaffen. Doch wenn das Gegenüber diese Gefühle nicht annehmen kann, weil er (bzw. sie) sich einfach nicht für begehrenswert hält, ist Hopfen und Malz verloren. Er hat diese Beziehung nicht zerstört. Sie wahrscheinlich auch nicht. Ich möchte mich hier nicht in küchenpsychologischen Analysen verzetteln, tippe aber ganz vage darauf, dass längst vergangene Erlebnisse, die mit ihrer Beziehung eigentlich nichts zu tun hatten, das Ganze zum Scheitern brachten.
Seit ich nichts mehr mit Behinderteneinrichtungen zu tun habe, habe ich privat eigentlich kaum noch mit Frauen mit Behinderung verkehrt. Und das hat absolut nichts damit zu tun, dass ich sie nicht als vollwertige Frauen betrachten würde. Es hat sich halt einfach nie so richtig ergeben. Das hat sich vor einigen Monaten geändert. Und während zu Anfang alles ganz hervorragend lief, schlitterten wir vor einigen Wochen sehr plötzlich und unerwartet in eine Situation, die wohl grob mit der oben beschriebenen vergleichbar ist. Das ist für mich sehr schwierig, weil dieses Mal sehr viel auf dem Spiel steht. Ich muss sie davon überzeugen, dass ich es ernst mit ihr meine und sie mir vertrauen kann, weiss aber nicht wie. Gleichzeitig darf ich ihr aber nicht das Gefühl vermitteln, unter meinem Erwartungsdruck zu stehen.
Das ist ein bisschen paradox. Ich führe wohl letzten Endes einen Kampf gegen einen mir unbekannten Teil ihrer Vergangenheit. Doch wie besiegt man einen unsichtbaren Feind?